ÜBER TIERE von Elfriede Jelinek

Warum ich die Einladung angenommen habe? Weil „Über Tiere“ ein beeindruckender Text ist. Wie Elfriede Jelinek einen Sprachfluss und geradezu Sog durch differente Wiederholungen generiert, da sehe ich eine Affinität zu meiner Technik, Bewegungsmodule mit geringen Veränderungen so aneinanderzureihen, dass ein gleichzeitig hypnotischer und analytischer Effekt eintritt. Insofern sehe ich in diesem Projekt – auch wenn es auf den ersten Blick bloß wirkt wie der Ausflug einer Choreografin ins Theater – eine Kontinuität meiner Arbeit der letzten Jahre und auch meiner Zusammenarbeit mit dem Komponisten Bernhard Lang, wo es ja auch diese Affinität der Arbeitsweisen gibt. Das ist der formale Aspekt. Außerdem besteht ein inhaltlicher Bezug zu einem Stück, das ich 1998 bei Image im dietheater Wien herausgebracht habe: Rough Trades, für das der Ausgangspunkt die wahre Geschichte eines Linzer Prostituiertenmordes war. Damals interessierte mich vor allem die strukturelle Verflechtung von Polizei, Prostitution, Geldwäsche und Justiz. Der Text von Elfriede Jelinek ist aber viel weniger abstrakt, sondern eine unmittelbare und sehr körperliche Abarbeitung.

Eine meiner Reaktionen auf den Text (einen Text von Elfriede Jelinek immer wieder und wieder zu lesen ist ein ganz eigener Prozess, das merke ich an jedem, der zu dem Projekt dazukommt: es ist eine Entwicklung von Hineingezogen- aber Irritiert-sein zu einem intensiven vielschichtigen Erlebnis) im Hinblick auf eine Inszenierung war die Frage, auf welche Weise man als Publikum, und zwar sowohl in der Geborgenheit der Gruppe als auch zurückgeworfen auf sich selbst als Einzelner, eine Kurzversion dieses Prozesses erleben kann.

 

Die Grundlage dafür versuche ich über eine spezifische Räumlichkeit herzustellen. Es gibt keine Frontalbühne, sondern Publikum und SchauspielerInnen halten sich in einem Raum auf. Zusammen mit Philipp Harnoncourt wage ich eine radikale Lösung, die unter anderem mit der Erfahrung von TRIKE (2005) zu tun hat, das ich ebenfalls sowohl im Theater am Neumarkt als auch im Tanzquartier Wien gezeigt habe, nämlich mit dem Problem, wie man zwei so unterschiedlich große Räume vergleichbar macht und auch mit der Freiheit, die mir beide Häuser in dieser Hinsicht geben. Wesentlich bestimmend für unser Raumkonzept sind die Aufführungen von Sacre Material (2000), das wir bis heute an verschiedenen Orten mit verschiedenen Zuschauergruppen spielen. Sacre Material ist ja räumlich so gestaltet, dass die ZuschauerInnen mehr Rechte haben als normalerweise im Theater, was Distanz und Nähe zum Geschehen betrifft, aber gleichzeitig erwachsen ihnen daraus gewisse Pflichten der Gesamtsituation gegenüber.

 

„Über Tiere“ besteht aus zwei Teilen, die einander bedingen. Der erste Teil kann als eine innerliche Ansprache der Hingabe an einen abwesenden Geliebten gelesen werden. Im zweiten Teil wird explizit vorgeführt, anhand der montierten Telefonfloskeln von MädchenhändlerInnen, Kunden und Vermittlern, welche Auswirkungen in einer kapitalistischen, mit menschenfeindlichen Immigrationsgesetzen eingefriedeten Gesellschaft das Geschäft mit Sexualität haben kann. Sexualität wäre ja eigentlich gratis und außerhalb der Warengesellschaft angesiedelt. Wenn Sexualität aber Teil des Konsumsystems wird, sind Freiheitsberaubung und Ausbeutung ebenso an der Tagesordnung wie bei der Herstellung von Sportschuhen in weit entfernten Ländern. Nur dass es eben nicht Sportschuhe sind, sondern Menschen, ihre Menschenwürde und ihre Körper. Der Körper ist also das Symbol dessen, was den Mädchen am nächsten ist und am wenigsten selbst gehört. Wie es im Justizurteil heißt: diese Mädchen sind ihrer sexuellen Disposition beraubt. Sie haben nicht mehr die Wahlmöglichkeiten, die im ersten Teil des Textes durchscheinen.

Wir gestalten in unserer Inszenierung die Zäsur zwischen den beiden Teilen so, dass im ersten Teil das Publikum noch die Übersicht und gleichzeitig eine aufregende Nähe zu den Akteuren hat, und sich im zweiten Teil die Situation umkehrt. Die Machtverhältnisse von Darstellen/Angeschautwerden/Anschauen kommen ins Wanken, das Publikum wird zum theatralen Objekt. Die ZuschauerInnen sitzen im zweiten Teil in einer Art Transitraum und die Performance findet mitten unter ihnen statt. Die Schauspielerinnen Juliane Werner und Silke Geertz und die Schauspieler Christian Wittmann und Christoph Rath verkörpern keine Figuren, sondern setzen punktuell Aktionen, damit der Text sich in Raum und Publikum verzweigen kann, wuchern kann wie jene gesellschaftliche Unterwanderung, die in den Protokollen zum Ausdruck kommt. In diesem Setting der Nähe sind sowohl ZuschauerInnen als auch SchauspielerInnen ausgesetzt.

 

Das Thema der Mädchenhändler, die Mädchen aus Osteuropa herbringen, ist sehr aktuell. Der Journalist Florian Klenk, der im Sommer 2005 den Skandal im „Falter“ aufgedeckt hat, arbeitete für die „Zeit“ und veröffentlichte dort immer wieder Berichte dazu. Das Thema an sich mutet dem Publikum schon einiges zu und zusätzlich mutet der Text ihm zu, dass es sich nicht automatisch auf die Position der moralischen Entrüstung zurückziehen kann. Ein Jelinek-Text polarisiert deshalb so, weil er nicht bloß etwas bestätigt, sondern eine Diskussion auslöst. So ist das auch bei diesem Text. Er ist nicht angenehm zu lesen, man muss sich richtig dazu zwingen und eigentlich kann man es nur aufgrund der Jelinekschen Ironie überhaupt aushalten.

Es ist ja ein traditioneller Vorwurf gegenüber den Texten von Elfriede Jelinek, das, was sie schreibe, sei Pornografie. Zur Beschäftigung mit dem Jelinek Universum gehört für mich momentan auch der wissenschaftliche Umgang mit ihrem Werk. Gegen den Pornografievorwurf lassen sich kunsttheoretische Kriterien heranziehen. Jelinek verwendet pornografische Methoden mit entgegen gesetzten Zielsetzungen und Strukturen und damit anderen Wirkungen.

Wenn ein pornografischer Text sich unter anderem durch explizit detaillierte Darstellung sexueller Handlungen, sprachliche Tabuverletzungen, fragmentierte Darstellung von Körpern, Reduktion der Akteure auf Geschlechtlichkeit, Austauschbarkeit, Rezeptionssteuerung durch Fehlen des Erzählerkommentars (wodurch eine Identifikation mit den handelnden Personen ermöglicht wird mit dem Ziel, den Leser zu erregen) dann wird ein Jelinek-Text einige dieser Merkmale aufweisen, und mindestens ebenso viele sprachlich und ästhetisch gegenläufige Strategien. Elfriede Jelinek schreibt in einem „Der Sinn des Obszönen“ übertitelten Aufsatz: „Die Lust soll nicht konsumiert werden wie kommerzielle Pornografie. Sie soll durch ästhetische Vermittlung sozusagen dem Leser ins Gesicht zurückschlagen….Es geht darum, Sexualität als etwas Politisches und nicht als etwas Unschuldiges zu begreifen, das einfach da ist.“

Es wäre etwas ganz anderes, wenn ich einen pornografischen Text nehmen und etwas entwickeln würde, das gegen ihn arbeitet. Hier ist die Ambivalenz aber schon der Textvorlage implizit. Brechungen sind grundsätzlich leicht möglich, weil Sex etwas so Ursächliches, etwas so Direktes ist. Es gibt universelle Mythen und erkennbare Aspekte, die sehr klar sind. Trotzdem geht mit dieser Arbeit ein ganzes Paket an Problematiken einher. Das Prekäre in der Inszenierung wirken zu lassen – darum geht es letztendlich.

 

Jelinek nimmt das dokumentarische Floskelmaterial der Telefonprotokolle ja nur zum Anlass, um über die verhandelten Themen Liebe, Nähe, Sexualität die Frage zu stellen: Wer sind wir? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Tier und Mensch? In „Ulrike Maria Stuart“, dem vor „Über Tiere“ letzten Dramentext von Elfriede Jelinek wird die RAF-Parole ‚Schwein oder Mensch’ ausgegeben. Die in „Über Tiere“ vorgeführten Protokollabschriften hätten das Potential, eine solch naiv implizierte Hierarchie des guten über den schlechten Menschen festzustellen, mit einer Tiermetapher zu versehen und sich moralisch überlegen zu fühlen. Genau das macht einem der Text aber madig.

Immer schneller werdend steigert sich die konkrete Benennung von Körperlichkeit, Körperteilen und körperlichen Vorgängen, dass man sich – Zitat – „fast anspeibt“. Bis zur Kehrtwende, wo sich traumatisch die Ablösung von jeglichem körperlichen Empfinden vollziehen muss. Dieser Wucht des beschriebenen Exzesses muss man etwas von annähernder Intensität entgegensetzen. Es könnte knallharte Illustration sein, warum nicht. Ich beschränke mich darauf, die Jelineksche Sprachflut zu orchestrieren, um so die Vorgänge zu unterminieren.

Christine Gaigg

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