Eingedenk aller Möglichkeiten

Über den Film "Abendland"

 

Ich habe noch nie einen Film von Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer gesehen, nicht „Unser täglich Brot“ (2005), nicht „Elsewhere“ (2001), weder im Kino noch im Fernsehen. Worauf ich nicht gerade stolz bin. Aber immerhin kann ich mich, als ich zum Screening einer Arbeitsfassung von Abendland ins Filmhaus eingeladen bin, auf einen sprichwörtlich unverstellten Blick verlassen. Was wiederum nicht ganz stimmt. Denn ich habe mir den Trailer angeschaut und gehört, es gehe thematisch um die Festung Europa, formal gestaltet mit ausschließlich in der Nacht gefilmten Szenen.

 

Die ersten Einstellungen bestätigen aufs erste diese Vorinformationen. Überwachungskamera, Nacht, eine Grenze, aber welche Grenze, das wird nicht gezeigt. Ein Mann sucht den dazugehörigen Monitor nach etwas Sichtbarem ab, murmelt in einer slawischen Sprache, dass sich da etwas „Warmes“ bewege. Das nächste Bild, eine Totale im Nichts, eine Wiese im Dunkel, schwacher Lichteinfall, der Titel Abendland. Zusammen mit der nächsten Episode, in der eine Gruppe Roma ihr Lager räumen muss und nächtens am Feuer nach einer Logistik des Zusammenbleibens sucht, sind so bereits die Themen grob ausgelegt: Überwachung, technische Apparaturen, Menschlichkeit, Zusammenhalt nach innen, Grenzen gegen außen. Und immer wieder die Magie der Nacht: im Dunklen aufblitzende Funken, Rauch, loderndes Feuer, kleine bewegliche Lichtquellen.

Die weniger filmtaugliche andere, die graue, trübe Seite der Nacht, zeigt sich in der anschließenden Einstellung: ein neon-beleuchteter Innenraum, offensichtlich in einem Krankenhaus. Nachdem die Totale eine zeitlang steht, wird klar, dass es die Frühgeborenen-Station ist. Die Krankenschwester dreht ein gerade ihre Hand ausfüllendes Frühchen im Brutkasten vom Rücken auf den Bauch. Viel später im Film wird ein Pfleger auf einer geriatrischen Station die Patientinnen in der Nacht wecken, um sie von einer Schlafposition in eine andere umzudrehen. Zu früh ins Leben gekommen, zu spät gegangen. Das ist nur eine der Klammern, die die Schauplätze des Films (darunter so unterschiedliche wie EU-Parlament, Sky-TV, Postsortierung, Telefonseelsorge, Telefonsex, Krematorium) auf verschiedenen Ebenen, manchmal höchst emotional, dann wieder erkenntnisreich, aber nie bloß formal, zusammenhalten.

 

Was mich an Abendland verblüfft, ist, dass es weniger die Montage in ihrer direkten Verknüpfung ist, die dem Film seine Qualität verleiht, sondern das Material an sich und die Versammlung der Episoden in einem fast sensorisch fühlbaren Miteinander, das das Kurzzeitgedächtnis überwindet und zeitlich weit auseinander liegende Szenen zueinander in Beziehung setzt. Ohne Voice-over oder sonstigem Kommentar, nur mit filmischen Mitteln, wie der Art und Weise, durch die in einer Totalen relevante Informationen sich nach und nach entfalten, oder der Aufbau einer Episode, die einem Problem ansatzweise auch tröstliche Aspekte entlockt.

 

Dem Film sieht man eine Haltung an, die ich als zeitgenössisch bezeichnen würde, also nicht modern, nicht postmodern, sondern zeitgenössisch in dem Sinn, dass sie sich keiner bestehenden und anerkannten Ästhetik bedient, sondern das Risiko eingeht, als unfertig klassifiziert zu werden. Diese Haltung zeigt sich sowohl in der filmischen Form als auch in der Entwicklung des Projekts und in der Arbeitsweise der Filmemacher. Ein sich Herantasten an die großen Fragen, das ein gewisses Scheitern mit einbezieht. Sich eingedenk vieler möglicher Alternativen für eine momentane Aktualisierung entscheiden, um das dokumentarische Material zum Sprechen zu bringen. Es könnte aber auch ganz anders zum Sprechen gebracht werden. Dieses Bewusstsein – und dessen ist sich dieser Film immer bewusst – möge man nicht als Beliebigkeit und Zögerlichkeit auslegen! Sondern vielmehr als eine angestrebte Offenheit und Transparenz, die es dem Film erspart, eine zynische oder deprimierte Grundhaltung einzunehmen. Denn dass Abendland schließlich keine Thesen über die Gesellschaft behauptet und keine Bewertungen vornimmt, sondern stattdessen dem einzelnen Zuschauer die Werkzeuge seiner eigenen Euro-Vision an die Hand gibt, konnte nur durch bestimmte Vorbedingungen gelingen.

 

Zum einen war da die Bedingung, dem Material nicht zu sehr verhaftet zu sein. Geyrhalter erzählt, dass er an insgesamt 75 in ganz Europa verstreuten Schauplätzen gedreht habe, von denen lediglich zwanzig im fertigen Film vorkommen. Zum anderen gab es die Bereitwilligkeit von Geyrhalter und Widerhofer, an verschiedenen Punkten des Prozesses im Kollegenkreis vorläufige Fassungen des Films vorzuführen, die Reaktionen des Publikums ernst zu nehmen, um daraufhin die Episoden immer wieder neu zu befragen, Sequenzen zu streichen oder einzufügen, zeitliche Verdichtungen und Längen zu ändern. Dieses Ringen um eine filmische Struktur, die offen und deutlich zugleich sein soll, verlangt nach klar erkennbaren Orten und nachvollziehbaren Szenen, belässt aber den Situationen ihre Ambivalenz.

 

Kurz nach Beginn des Films stehen in einer langen Einstellung am Münchner Oktoberfest tausende Menschen an ihren Tischen. Zum Liedtext „Heit is so a schena Tog“ reißen sie in einer choreografierten Freudensbekundung die Arme nach oben. Natürlich bin ich abgestoßen, nie könnte ich mich dazugesellen, weiß aber gar nicht, ob meine abstinente Haltung dem überhaupt etwas entgegensetzt. Genauso gut könnte ich mit meinem Abgrenzungsversuch dem Film in die Falle gegangen sein. Aber nachdem die Kamera irrwitzig lange einer Kellnerin durch die Menge gefolgt ist, ermöglicht durch Security und Pfeiferl, folgt eine ebenso lang andauernde Kamerabewegung nun den Rotkreuz-Helfern, die die Alkoholleichen versorgen. Das ist Matter-of-Factness, so sieht unsere Welt aus, aber da ist eben auch der Hinweis auf die Fürsorge, die trotz allem funktioniert. Die letzte Einstellung der Oktoberfest-Episode zeigt eine Angehörige von hinten, wie sie von einem Rotkreuz-Helfer getröstet wird. Eine nur kleine körperliche Geste möchte man meinen, aber so wie die Episode gebaut ist, ist sie für mich stark emotionalisierend. (Danach bin ich richtig froh, dass der Film sich der Londoner Video-Überwachung widmet.) Fürsorge ist ein Motiv, das der Film in der Folge immer wieder aufnimmt, manchmal menschlich, manchmal maschinell, manchmal gelungen, dann wieder völlig hilflos und zynisch wie in dem „Beratungsgespräch“, das einer Abschiebung vorausgeht.

 

Tanzende Menschen en gros zeigt der Film noch zwei weitere Male. Einmal im Rahmen der Castor-Transport Blockade mit der zitierungswürdigen Inspizienten-Ansage: „Die, die nur fürs Tanzen gekommen sind, suchen sich eine Disko im nächsten Ort, alle anderen auf die Schienen bitte.“ Die Gorleben-Episode ist sicherlich der dokumentarische Höhepunkt von Abendland. Dann, nach fast eineinhalb Stunden Filmdauer taucht zum ersten Mal auf, was wahrscheinlich viele im Kino als eigentliche grenzübergreifende nächtliche Aktivität kennen: ein Rave. In einer unglaublichen Dimension. Wieder bahnt sich die Kamera einen zügigen Weg durch die Menschen, die – wie macht der Geyrhalter das bloß? – bereitwillig zurückweichen, als ob Drogen sie auf sorgfältigste räumliche Wahrnehmung sensibilisiert hätten. Die Bewegung mündet in eine Textzeile, die dem Film gleichsam Untertitel sein könnte: „It’s a complex situation“.

 

Veröffentlicht in kolik 15/2011 und Stadtkinozeitung

 

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